Geschichte aller Bergarbeiter- Familien Lothringens, Deutschlandfunk
Anfangs ist dieses Buch verwirrend. Die Geschichte entwickelt sich in kurzen Kapiteln, durch Zeitsprünge und Perspektivenwechsel. Filippettis Prosa scheint fernen Stimmen nachzujagen, die durch jene einer allwissenden Erzählerin widerhallen. Gedächtnissplitter werden da aneinandergelegt. Schwer auszumachen, wem die Erinnerungen gehören, aus wessen Blickpunkt das Geschehen gerade erzählt wird. Kennt man die Eckdaten von Filippettis Biografie, erkennt man in manchen Figuren Familienmitglieder der Autorin. Aber selten werden sie mit ihren Namen genannt, und wenn, dann nur mit den Vornamen. Meist bezeichnet die Autorin ihre Figuren einfach mit Pronomen: „Er“, „Sie“; häufig ist es von einem unbestimmten „Sie“ die Rede – Plural.
„Der Aufstand“ von Franco Berardi. „Demokratie als solche spielt keine Rolle mehr“, Deutschlandfunk, 16.04.2015
Der Finanzkapitalismus hat endgültig gesiegt und eine Finanzdiktatur errichtet, deren Zerstörungskraft an die von Kriegen heranreicht. So lautete bereits 2011 der niederschmetternde Befund von Franco Berardi in seinem Essay „Der Aufstand“. Zu den Schuldigen an dieser Entwicklung zählt der italienische Philosoph auch das Internet.
Franco Berardi: „Was ist denn der Finanzkapitalismus? Wertakkumulation ohne Produktion. Eine Geldvermehrung, die allein durch Geldzirkulation zustande kommt, ohne dass das Geld über den Umweg der Realwirtschaft und der Produktion geleitet werden müsste.“
Profite werden nicht mehr durch die Herstellung von Gebrauchsgütern generiert, sondern einfach durch Geldwert, der sich selbst reproduziert. In die Sprache der Semiotik übersetzt heißt das, dass sich der monetäre Signifikant seiner Funktion der Referenz auf reale Dinge entledigt hat.
Darin sieht Berardi den Höhepunkt eines Abstraktionsprozesses, der im 20. Jahrhundert gelaufen ist und alle Lebensbereiche erfasst hat. Dessen Keimzelle macht er interessanterweise nicht etwa in der Sphäre der Ökonomie aus, sondern in jener der Poesie: im französischen und russischen Symbolismus.
Roman „Schwarze Seelen“, Irritierende Mythisierung archaischer Traditionen
Die abgelegenen Bergregionen Kalabriens bilden die Kulisse für Gioacchino Criacos Roman „Schwarze Seelen“. Dort beginnt die Verbrecherkarriere von drei Jugendlichen. Criacos gibt dabei einen Einblick in eine fremde, archaische Welt. Seltsam mutet dabei nur an, dass die in Kalabrien herrschende Verbrecherorganisation ‚Ndrangheta in einem seltsam milden Licht erscheint.
Alltag im Kirchenstaat: Die kleine Welt des Vatikan, ein Buch von Aldo Maria Valli, Deutschlandfunk, 09.01.2015
Der katholische Kirchenstaat funktioniert nach ganz eigenen Regeln. Wer nicht gerade Vatikan-Korrespondent ist, dem bleibt dieser Kosmos verborgen. Einer dieser Berichterstatter, Aldo Maria Valli, hat seine Einblicke in die Beziehungsgeflechte und den Alltag der Kirchenoberhäupter aufgeschrieben. Jetzt ist sein Buch ins Deutsche übersetzt worden.
„In dieses Buch sind meine Erfahrungen aus vielen Jahren eingeflossen. Ich mache diesen Job schon lange, seit 1995. Über all die Jahre habe ich Leute kennengelernt und viele Orte gesehen, die dem Publikum unzugänglich sind. Das geschah immer zu beruflichen Anlässen. Der Vatikan ist eine extrem geschlossene Welt, die Schwierigkeiten hat mit der Außenwelt zu kommunizieren. Vor allem über ihre umstrittenen Seiten.“
Aldo Maria Valli, Vatikan-Korrespondent des italienischen Staatsfernsehens, hatte sich allerdings kein Buch über die „umstrittenen Seiten“ des Vatikan vorgenommen. Kein Enthüllungsbuch über die kirchlichen Finanzen à la „Vatikan AG“ von Gianluigi Nuzzi. Kein Skandalbuch über die ungeklärten Todes- und Entführungsfälle, die sich in der Vatikanstadt ereignet haben. Den „Schattenseiten des Vatikan“ hat er ein Kapitel gewidmet, aber sie stehen nicht im Zentrum seines Buches „Die kleine Welt des Vatikan“. Der Band ist vielmehr ein Vademecum des Alltags im Staat der Päpste, seiner
Wahnsinn ist schuldlos, Deutschlandfunk, 22.07.2013
Der Roman von Ugo Riccarelli erzählt das Erwachsenwerden des Pflegers Beniamino: In einer Irrenanstalt in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges in einer toskanischen Kleinstadt.
Jedes Mal, wenn ein Vogelschwarm am Himmel auffliegt, fixiert Fosco die Vögel und schwirrt, ihre Bewegungen nachahmend, mit ausgebreiteten Armen durch den Hof. Der Professor Cavani trägt ständig Homers Verse vor, während Giovanni in die Irrenanstalt eingesperrt wurde, weil er so inbrünstig an Gott glaubt, dass er dauernd mit ihm Gespräche führt. Irre bewohnen die „Residenz des Doktor Rattazzi“ und sie weisen alle ein besonderes Merkmal, ein charakteristisches Verhalten auf, das bei jedem ihrer Auftritte erwähnt wird, wie die Epitheta, die besonderen Attribute, die den Göttern und Helden in Homers Epen beigegeben sind. In der Tat scheinen Riccarellis Verrückte in ihrer Fantasiewelt von den anderen Erdbewohnern ebenso weit entfernt wie die Götter im Olymp. Vielleicht geht deshalb eine unheimliche Faszination von ihnen aus. Der Pfleger Beniamino spürte sie schon als Kind, als er durch die Lücke in der Mauer, die die Irrenanstalt vom Garten seines Elternhauses trennte, das enthemmte Treiben dieser Menschen im Hof beobachtete.
Ein Aufeinanderprallen plumper Körper, eine Kakophonie aus Tönen, die gleichwohl in ihrem aberwitzigen Zusammenklang ihre eigene Vernunft und eine Art Würde zu besitzen schien. Fast eine Art Schönheit.