Tag 36 des Lockdowns in Deutschland. Ich habe beschlossen, ab heute Tagebuch zu schreiben. Jeden Tag ein paar Zeilen, um festzuhalten, ob etwas geschehen ist, obwohl nichts geschieht, nichts geschehen kann, nichts geschehen darf, vom Tickern der Nachrichten und der Zahlen abgesehen. Unser aller Leben, das private, einzelne, individuelle Leben, ist gerade im Lockdown eingefroren. Unsere Wohnungen sind der Gefrierschrank, der alles bewahren soll, wie es ist, Bewegungen unterbinden, Veränderungen vertagen. Zugleich geht die Welt – oder sagen wir: unsere Welt, der sogenannte Westen – den Bach runter, mit unfassbarem Tempo. Mit jedem Toten, der im Gemeinschaftsgrab der Covid-19-Verstorbenen verschwindet, mit jedem Lohnabhängigen, der sich irgendwo arbeitslos meldet, mit jedem Flugzeug, das am Boden bleibt, mit jedem Unternehmen, das den Staat um Hilfe bittet, weil es kurz vor der Insolvenz steht, mit jedem Konzert, das nicht stattfindet und jedem Theater, das „bis zum Ende der Saison“ nicht öffnen wird, rückt das Ende näher. Das Einschalten des Radios am Morgen, diese gewohnte Handlung, ein Akt der Geborgenheit, weil ich ihn nur vollziehe, wenn ich zuhause bin, nicht auf Reisen, nicht im Hotel, nicht zu Gast, ist eine tägliche Spritze Angst geworden. Vor dem Virus habe ich keine Angst, zumindest beschäftigt sie mich nicht, die Todesangst. Die Natur hat es so eingerichtet, dass der Mensch den eigenen Tod für eine unwahrscheinliche Möglichkeit hält, bis er da ist. Angst habe ich vor dem Zusammenbruch, der jeden Tag wahrscheinlicher wird. Vor dem Augenblick, an dem der Lockdown nicht nur „gelockert“, sondern aufgehoben sein wird, und wir zur Normalität werden zurückkehren dürfen, wie es allenthalben beschwörend heißt. Was werden wir dann da draußen, in der „Normalität“, vorfinden? Was wird bis dahin „normal“ geworden sein? Was wird es für ein Leben sein, das aufgetaute?