In der Version des Berliner Ensembles heißt das Stück „Der Weg zurück“. Im englischen Original lautet der Titel „The Regression“ – ein Begriff, der die Sache eher auf den Punkt bringt. Da geht es buchstäblich um Regression. In den Mutterleib, auf der persönlichen Ebene. Gesellschaftlich zu einem vormodernen, vorcartesischen Denken, das Wissenschaft und wissenschaftlich-technologischen Fortschritt grundsätzlich ablehnt und zunächst als Randerscheinung, als Spinnerei einer esoterisch angehauchten, nicht ernst genommenen Freundin zu Tage tritt, dann als Glaube einer Protestbewegung, die sich allmählich radikalisiert und schließlich Morde und Bombenanschläge verübt. Zu guter Letzt avanciert die Regression zur Ideologie einer totalitären Diktatur, die wie alle Diktaturen keinen Dissens duldet. In diesem Stadium ist sie so weit fortgeschritten, dass vollständige Wörter, die mehr als eine Silbe enthalten, verboten sind. Sprache ist ja das Werkzeug, durch das wir Wissen kommunizieren, und in der Regressionsdiktatur bedeutet Wissen Unheil, Forschung ist ein Verbrechen. Dennis Kelly beschreibt die gewaltsame Rückentwicklung der menschlichen Gesellschaft über ein Jahrhundert hinweg zu einem mythischen Urzustand, der sich als alles andere als Garten Eden erweist. Ganz zum Schluß ist die Erde menschenleer, die Vegetation hat jede Spur unserer Spezies überwuchert, der Planet ist wieder von Dinosauriern bewohnt.
Am Anfang von alledem steht ein Trauma. Der Mann, der mit einem Baby in den Armen auf der Bühne steht und einen langen Monolog hält, hat seine Frau bei der Geburt des Kindes verloren. Eine von den Errungenschaften der Medizin ermöglichte Geburt – vorangegangen sind etliche Behandlungen und eine In-Vitro-Fertilisation. Doch die Behandlungen bargen Gefahren, mit denen das Paar nicht gerechnet hatte. Dass die Plazenta der Gebärenden mit der Gebärmutter verwachsen ist, ist eine Nebenwirkung der Therapie. Aber das haben Hebamme und Ärzte anscheinend nicht berücksichtigt, so dass beim Herausziehen des Kindes die Gebärmutter mitgerissen wurde und die Gebärende ausgeblutet ist. Die – irrationale – Schlussfolgerung des verzweifelten Witwers: Die medizinischen Eingriffe sind am Tod seiner Frau schuld, also die Medizin ist schuld, die Wissenschaft ist schuld. Eine Idee, in der er von einer Freundin – der oben genannten esoterisch angehauchten, zuvor verschmähten Freundin – bestärkt wird. Er klammert sich an das Baby, ein Mädchen, das er Dawn, Morgenröte nennt, und liebt es mit einer Liebe, die ihn durchdringt und in einem Ahah-Moment als Verschmelzung vorkommt: ein Zustand vor der individuellen Differenzierung, die mit dem Verlassen des Mutterleibs eintritt. Man kann es übersehen, weil es als Höhepunkt der Liebe, als wünschenswerte emotionale Überwältigung daherkommt – aber das ist der erste Akt der Regression: Das Ich wird ein vom Anderen ungetrennter Fötus. Der zweite Akt ist ein bewußter: Der Witwer nimmt die Esoterikerin zur Frau und gründet eine Bewegung namens „Regression“. Seine Kinder, Enkel und Urenkel setzen seine Mission, die Welt von Wissenschaft, Wissen, Zivilisation, Forschung und Fortschritt zu befreien, fort und führen die Bewegung nicht nur friedlich zum Ziel, sprich: zur Machtergreifung. Die Menschheit, die in der Regression-Diktatur und vor dem Dinosaurier-Eldorado die Erde bewohnt, ist eine gehässige, zu jedem brutalsten Gewaltakt bereite, gesichtslose, infernalische Masse. Aus der Liebe, die den Urahn nach dem Verlust der Geliebten zur Ablehnung von Wissenschaft und Wissen bewegte, ist die Herrschaft des Hasses geworden. Aus der radikalen Umwelt-Utopie ein Horror.
Ein Quäntchen Hoffnung taucht in der letzten Szene, in der noch Menschen vorkommen, auf. Ein Mädchen, das wie das Baby zu Beginn des Stückes Dawn heißt, findet durch die Liebe zu einer Freundin namens Faith – die Namen sind da nicht von ungefähr – den Mut zur Neugier, zum Wissensdrang zurück. Die beiden fangen an, durch eine Lupe Ameisen zu beobachten – was freilich verboten ist und insgeheim geschieht. Aber als ein Sonnenstrahl durch die Lupe fällt, tötet er ein Insekt. Subtil ist diese Metapher für die Ambivalenz des Wissens sicherlich nicht. Ist der natürliche Wissensdrang des Menschen ein Segen oder unheilstiftend? – das ist die Frage seit Adam und Eva.
Da schon die Ursünde aus Liebe geschah und die Vertreibung aus dem Paradies zur Folge hatte, da solche Ur-Mythen in unseren Köpfen feststecken, und da über das Verhältnis von Eros und Wissenstrieb nicht wenig geschrieben wurde, ist es kein Wunder, dass das Expertengespräch nach der gestrigen Vorstellung sich in erster Linie um das Verhältnis von Liebe und Wissen, Liebe und Neugier drehte. Dennoch frage ich mich, wie man bei einem solchen Stück die offensichtlichen Parallelen zu dem, was wir heute täglich vor Augen haben, ausblenden kann: Impfskepsis, Wissenschaftsfeindlichkeit, randalierende Coronaleugner und Impfgegner, Morddrohungen gegen Wissenschaftler… Geht all das etwa nicht aus einer esoterisch-irrationalen, rückwärtsgewandten, wissenschafts- und fortschrittsfeindlichen Haltung hervor, die ihre Argumente in der gewiss stattgefundenen und stattfindenden Umweltzerstörung, dem Artensterben und der Klimakrise findet? Als wären die Auswüchse des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts ein Grund, zur Prähistorie zurückzukehren. Kellys Stück weist in einem dystopischen Ausblick hin, was sich da anbahnt, wenn man dem Wahnsinn nicht entgegentritt: Am logischen Ende solcher Tendenzen steht die Abwicklung der Zivilisation, der Planet der Dinosaurier.
Offenbar wollte man gestern im BE kein heißes Eisen anfassen, das Politische vor der Tür lassen. Aber Theater – ein Hort des Unpolitischen?